Poesie zum 1. Mai
Neulich habe ich in meinem alten Poesiealbum geblättert. „Tue immer das Gute, auch wenn es niemand sieht“, „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl’ die heit’ren Stunden nur“ – Sätze, die für viele Frauen-Generationen untrennbar mit den Schulfreundinnen verbunden sind. Die Lehrerinnen (Lehrer schrieben nicht in Poesiealben, es gab außerdem in der Grundschule keine unterrichtenden Männer) zitierten gerne Seneca und Eltern wünschten ihren Töchtern neben der obligatorischen Strebsamkeit Glück und Gesundheit. Die Zeichnungen, die die klugen Worte illustrieren sollten, zeugten von großem oder kleinem Talent, fehlendes wurde durch farbenfrohe Fleißbildchen ersetzt und meist wurde mit Bleistift vorgeschrieben, um ja keine Fehler zu machen. Jedes Mädchen (Jungs schrieben doch nicht in Poesiealben!) überlegte genau, wem sie ihr Album für einen Beitrag überreichte – die Hierarchie in Mädchengruppen war doch schon immer streng – und manchmal war die eine beleidigt, dass die andere zuerst reinschreiben durfte. Poesiealben – der Inbegriff einer Zeit, die gefühlt lange zurückliegt und die vom konservativen Geist der 50er Jahre durchdrungen war.
Das gegenwärtige, wirklich fortschrittliche (Achtung: Ironie!) Pendant zum Poesiealbum (was für ein Wort! Poesie! Die schönen Künste!) nennt sich Freundebuch. Erinnert sprachlich irgendwie an „Fünf Freunde und ein Kriminalfall“. Immerhin gibt es Freundebücher jetzt auch für Jungs, zumindest vom Motiv her (Fußball/Rennwagen). Neulich erfuhr ich, dass der kleine dreijährige Großcousin von T. von seiner Kindergartenfreundin, die im Herbst in die Schule kommt, ein Freundebuch zum Eintragen zugesteckt bekam. Ich blätterte ein wenig in einem „Hello Kitty“-Traum in rosa (seufz!). Da hatten Mütter in Schönschrift verschiedene Informationen über ihre Kinder preisgegeben, denn ein fortgeschrittenes Kindergartenkind kann ja in der Regel nicht mehr als den eigenen Namen schreiben. Es ist nämlich heutzutage so, dass der Eintrag in ein solches Buch keinen zusammenhängenden Text mehr vorsieht – ein Gedicht ginge also gar nicht mehr zu hinterlassen – sondern es werden einzelnen Kategorien abgefragt. Zunächst kommen statistische Angaben wie Adresse, Handynummer, Mailadresse und Geburtstag dran. Dann folgen Fragen nach eventuellen Hobbies (Golfen, Tennis, Malen, Tanzen) und das Lieblingsessen soll bitte auch verraten werden. In der Mitte müssen die Stars aus Musik- und Filmwelt ihren Raum bekommen: Wer ist mein/e Favorit/in? Und dann folgen Schlag auf Schlag Fragen zum Lieblingssong und zum Lieblingsfilm, nur die Top-Kleidermarke bzw. das Designerlabel habe ich noch nicht im Fragenkatalog lesen dürfen. Hübsch wäre ja zwischendurch eigentlich noch die Frage nach der Familienform, oder? Nach der schnöden Glitzer- und Konsumwelt bekommen die ganz persönlichen Werte dann doch noch ein Plätzchen: „Was ich gar nicht mag“ (Streiten, Hausaufgaben), „was ich cool finde“ (Weltfrieden!) und – damit es wenigstens noch eine Hinwendung zum DU gibt – „was ich dir wünsche“: Hier ist Raum für die üblichen guten Wünsche (Gesundheit!), aber auch für die wirklichen Freundschaftserklärungen (dass wir immer zusammenhalten!). Das Freundebuch – der Ausflug in die Neuzeit ergab übrigens, dass Lehrerinnen und Eltern am liebsten Michael Jackson und Beatles hören – interessante Offenbarung!
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