In the Ghetto
Neulich war ich auf einem wunderschönen Fest. Es war ein lauer Sommerabend, nette Gäste, die Gastgeberin hatte in ihren Garten eingeladen. Gut gelaunt, mit einer kleinen Geschenketasche (lauter Dinge, die sich verbrauchen und auch nicht dick machen oder einstauben) brachen wir auf und überlegten uns auf dem Weg, ob wir wohl irgendjemand treffen werden, die oder den wir kennen. Besser bekannt waren wir nämlich mit der Partnerin der Gastgeberin.
Als wir ankamen, waren schon eine Menge Gäste jeden Alters eingetroffen. Der Lesbenanteil war relativ übersichtlich. Es gab einen Aperitif und die Stimmung war entspannt und ungezwungen.
Nach einiger Zeit schlug jemand mit einem Löffel an ein Glas, es kehrte langsam Ruhe ein, und die Gastgeberin, ich nenne sie jetzt einfach Petra, begrüßte die Gästeschar. Zunächst kam ihre fast vollständig anwesende Familie an die Reihe, jedeR wurde mit liebevollen Worten vorgestellt. Nachbarn und Schulfreund_innen führte Petra teilweise mit kleinen Anekdoten ein. Ein erfrischender Reigen voller Zugewandtheit und Dankbarkeit. Es machte Spaß zuzuhören.
Petras Partnerin Irene lächelte. Sie kannte all die Geschichten und Geschichtchen schon, schließlich sind sie und Petra seit neun Jahren ein Paar.
Nun waren eigentlich nur noch Irene und die anderen anwesenden Lesben „unbegrüßt“. Petra hob an: „Ja, und dann begrüße ich natürlich noch Irene, die mir hier sehr geholfen hat und die Freundinnen, die ich über sie kennengelernt habe.“ Das war’s. Ich wartete noch auf irgendetwas – ja, auf was eigentlich? Ich wartete auf eine liebevolle Geste, etwas, das die Besonderheit dieser Beziehung herausstellt. „Es“ kam nicht. Und dann fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Petra ist nicht out. Sie feiert ein großes Fest und verleugnet ihre Partnerin vor ihrer Familie.
Das Fest sah ich auf einmal mit anderen Augen. Nach einigen Momenten suchte ich im Gästegewusel nach Irene: „Äh, sag mal, …“ Irene fiel mir ins Wort. „Petra ist nicht out. Sie schafft es einfach nicht, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen. Wenn wir jemals zusammenziehen oder gar heiraten sollten, dann erst, wenn die Mutter unter der Erde liegt.“ Ich war sprachlos. Petras schon ziemlich gebrechliche Mutter brauchte zwar eine Stütze beim Gehen, aber sie schien geistig völlig rege zu sein – die Vorstellung, ein eigenes freies Leben an das Ableben der eigenen Mutter zu koppeln, deprimierte mich zutiefst, auch wenn klar war, dass dieser „Handel“ kein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert darstellt.
Irene unterbrach meine Gedanken: „Du als Aktivistin kannst dir das vielleicht nicht vorstellen, aber du lebst in einem Ghetto. Viele Lesben sind nicht out, sie lassen sich auf gefühlte oder ausgesprochene Erwartungen der Herkunftsfamilie ein, sie scheuen den Konflikt und irgendwann ist es dann einfach unmöglich, mit der Sprache herauszurücken.“ Was sollte ich darauf sagen? Ja, es stimmt, letztlich geht es immer um ein Thema: Liebe, Wertschätzung, Anerkennung. Wir alle haben Angst, die Liebe unserer Eltern zu verlieren. Auch wenn nach dem Coming out häufig gar nicht das eintritt, wovor wir uns am meisten fürchten, ein Risiko bleibt immer, auch heute noch. Aber es gibt da so ein Sprichwort, das heute noch seine Gültigkeit hat: Wer wagt, gewinnt.